Im fünften Teil meiner Reihe zur „sexuellen Persönlichkeitsentwicklung“ will ich heute darüber sprechen, wie du Sexualenergie nutzt, um in allen Lebensbereichen unendliche Spiele zu spielen.
In unserer Gesellschaft, vor allem durch den Kapitalismus, lernen wir schon als Kinder, dass man Spiele spielt, um zu gewinnen.
Bei Mensch ärgere dich nicht ärgern sich Menschen, wenn sie kurz vor dem Ziel eine Figur verlieren. In Monopoly lernen wir Straßen kaufen und nicht ins Gefängnis kommen.
In der Schule lernst du, was gute und schlechte Noten sind. Den Abschluss gibt es nur mit diesem und jenem Schnitt. Für das Studium gibt es einen Numerus Clausus.
In der Werbung lernen wir, was ein Auto über unseren Status sagt. Von Eltern lernen wir, was teuer und billig ist. Bankenwerbung von „Mein Auto, mein Haus, mein Boot“ sind der Stoff, aus dem die Träume nur einer Generation vor uns gestrickt waren.
Selbst wenn du diese Dinge ablehnst, kannst du dich kaum der Macht dieser und ähnlicher Regeln entziehen. Es scheint, als gäbe es den Maßstab des gewonnenen Lebens.
Das ist auch der Grund, warum Menschen lieber Unglück über Unsicherheit wählen: die scheiß Arbeitssituation verspricht immerhin das Ziel am Ende. Das kann das Überleben am Monatsende oder der Unternehmensverkauf in Jahren sein. Die Hoffnung bleibt, dass sich das Leid auszahlen wird. Die Angst bleibt, dass wir im Falle des Verlierens unsere Scham ertragen müssen, weil ein anderer gewinnt.
Das Gewohnte loslassen fällt uns nur schwer, weil damit eine gewisse Hoffnung auf das Erreichen eines Ziel mit losgelassen wird, und daran hängt oftmals ein großes Stück soziale Identität.
Lebensenergie, die verpufft.
Wenn der Maßstab für deine Wirksamkeit außerhalb von dir gemessen wird, bist du Sklave der Deutungshoheit anderer.
Deine Erfüllung findet dann durch die Augen anderer statt. Nicht dein Spiel zählt. Ob du das Spiel der anderen gewinnst, ist die Grundlinie deiner Glückshormone.
Du fühlst dich wie in einem panoptischen Gefängnis, mit der ständigen Angst, in der Not, Verzweiflung und vergeblichen Versuchen, endlich zum erfolgreichen Ziel zu gelangen, gesehen, bewertet und verurteilt zu werden.
Dabei ist selbst der innere Motor deiner Anstrengungen nur eine vage Idee, die durch ihre vagen Ziele zur unendlichen Selbstkasteiung wird. Du weißt nicht genau, wozu, strengst dich aber an, wohin zum kommen. Deine Lebensenergie fließt nicht, du versklavst sie für die Erwartungen anderer.
Das vage Ende ist für viele eine Idee von Autonomie, Freiheit, Reichtum oder Dominanz, die sie im täglichen Marketing vorgegaukelt bekommen.
Wir verwechseln die Anleitung für das Spiel mit dem Spiel und dem eigentlichen Glück, das wir am erfolgreiche Ende, wenn wir das Spiel gewonnen haben, erleben wollen. Wir verwechseln das Ziel mit dem Spiel auf dem Weg.
Sex ist Leben, nur krasser.
Im Sex ist das nicht anders. Und durch Sex können wir diese Dynamik in allen Lebensbereichen auflösen.
Nur der Orgasmus macht, dass Sex erfolgreich war? Das Abspritzen markiert das Ende? Dating ist ein bescheuerter Balztanz, damit am Ende Beischlaf stattfindet?
Menschen haben erst durch den Druck der Ziele den Stress auf dem Weg.
Stell dir vor, Sex wäre nicht vor zwei Jahrhunderten mit den Mechanismen der Dampfmaschine in Funktionen untersucht worden. Er hätte keine unbedingte Verbindung zu steifen Penissen, feuchten Vulven und einem Skript von Lecken, blasen, ficken, spritzen. Kein Körper wäre richtiger, würde besser funktionieren oder wäre hier und da besser geformt, um schneller zum Höhepunkt zu kommen.
Sex wäre ein Tanz. Ohne Ende und Anfang würdest du darum bekümmert sein, so oft es geht die Musik zu hören. Im ganzen Song wäre deine Begegnung wie die Ästhetik der Musik, wo du nicht nur darauf wartest, dass endlich der Refrain kommt, den du ab dann in Dauerschleife hören willst.
Der Weg ist das Spiel
Die Arbeit mit Sexualität ist eines der effektivsten Mittel, um an den Dynamiken aller Lebensbereiche, in denen wir durch Druck immer wieder das Spiel verpassen, zu arbeiten.
Kein anderes Vehikel kann so schnell Bewusstsein für die persönlichen Kernthemen, die Arbeit, Karriere, Finanzen, Umfeld, Freunde, Freizeit, Beziehungen, Liebe … beeinflussen, bringen, wie zwischenmenschliche Intimität.
Über den Sex gibt es einen Weg, wieder zu deiner Selbstwirksamkeit zu kommen, die nichts mit den Erwartungen anderer zu tun hat. Der Weg ist kein Verzicht, keine stoische Praxis. Er ist ein Erlebnis auf der Haut, weshalb du ihn ganz gehen musst, um an sein Ende zu gelangen.
Die Übung ist simpel: für 30 Tage erlebst du Sex, ohne ein Ziel.
Du erlebst den Weg, nur dieses Mal mit allen Weggabelungen, Umwegen und Sackgassen. Du lernst Hingabe, Loslassen, Aufgabe, Losgehen, Annahme, Aufbäumen, Aufhören.
Du lässt nicht mehr das Filmskript dein eigentliches Erlebnis bestimmen. Du stellst das Erlebnis über das Ergebnis.
Heißt auch: jeden Gedanken, der das Spiel eigentlich zu Ende spielen will, beobachtest du, und lässt ihn wieder los. Du überlistest dein trainiertes Gehirn, das wie ein pawlowscher Hund wegen den Klingeln anderer sabbert.
Für 30 Tage erlebst du Sex, ohne als Mann zu ejakulieren oder als Frau die Klitoris zu (über)stimulieren. Du konzentrierst dich auf alle Sinne, ohne an nur einem Punkt zwischen deinen Beinen hängen zu bleiben.
Statt aus dem einen körperlichen (und mentalen) Punkt das Meiste erzwingen zu wollen, gibst du der Energie ihren Raum, zu sein. Du lässt das Ziel los, dadurch lässt du auch die Zeit los, die sonst alle deine Begegnungen analog zu Arbeit, Leistung und Effektivität, mit einer mentalen Alarmuhr ausstattet.
Was du in diesen 30 Tagen erlebst, ist schwierig vor dem Erlebnis durch Worte zu vermitteln.
Muster deiner Tage kommen zum Vorschein. Dir wird bewusst, wie sehr und oft du vom Ergebnis einer Sache abhängig bist.
Du bemerkst, wo du überall kein Maß hattest, wo dir selbst Anfang und Ende einer Sache nicht ganz klar waren. Du bemerkst, wie und wo du unruhig am Anfang, ungeduldig auf dem Weg und unglücklich am Ende bist. Du bemerkst, wie die Erwartungen anderer deine Handlungen beeinflussen und wie wenig deiner Handlungen dein bewusster Wille sind.
Deine Sexualenergie steigt, wird deutlicher spürbar und damit zeigt sich deine Lust für das, was du willst. Dir wird bewusster, was du nicht mehr willst.
Wenn du es schaffst, die Erwartungen loszulassen, zeigen sich Präferenzen.
Aus magischer Hand lässt du das Ziel für das Spiel los und findest sehr viel mehr Befriedigung durch die Ungewissheit des Endes.
Die Spannung, was als nächstes passiert, kann sich dann über die Bettkante in alle Lebensbereiche ausdehnen.
Wie beispielsweise deine Arbeit weiter geht, entscheidet sich immer wieder neu. Ob du den Job weiter machst, weißt du morgen wieder, ohne am Zweifel zu hängen. Wie du deine Beziehung lebst, bemisst du an der Energie, die da ist.
Du sitzt locker im Sattel, bereit zum Galopp und bereit, abzusteigen.
Ob der Orgasmus kommt, interessiert dich nicht. Davor und währenddessen ist wesentlich befriedigender als das Ziel am Ende.
Mit dem Ziel geht die Zeitschiene verloren. Du wählst lieber Unsicherheit über Unglück, weil, wen kümmert es, ob dein Lebenslauf für andere nachvollziehbar ist?
Wenn du es schaffst, die 30 Tage zu meistern, können sich viele Bereiche verändern, in denen du zuvor gelitten hast.
Dein Sex kann nicht mehr wirklich auf das niedrigere Level von zuvor zurückfallen. Es ist kaum möglich, nicht mehr die Parallelen in anderen Bereichen zu erkennen, ohne sie zu überprüfen oder zu verändern.
Lebendigkeit wird dein Tanz.
Ohne Ende und Anfang geht es dir nur noch darum, die Musik zu hören. Der Refrain ist nur ein Teil davon. Du willst alles hören, damit der Song ganz wird.
Du lernst, dass man Spiele einfach nur spielt.
Danke für Deine Anregung, was ich kurz kommentieren wollte. Ich habe die Praxis probiert, angeregt durch Deinen Podcast zu dem gleichen Thema. Für 30 Tage ohne Ejakulieren habe ich drei Anläufe gebraucht. Beim ersten Mal hat sich die Sexualenergie wahnsinnig aufgebaut, nach einer Woche konnte ich kaum geradestehen, weil sich alles im Becken versammelt hat. Gleichzeitig hätte ich die ganze Welt nehmen können, und das auch ausgestrahlt. Bei den weiteren Versuchen war es zunächst auch nicht leichter, es wird aber besser, je grösser die Abstände werden. Es war wirklich interessant, was sich gezeigt hat und auch in was Energie hineingeht. So habe ich angefangen, Buchrezensionen zu schreiben, was ich seit Jahren gerne gemacht hätte. Zudem habe ich in meinem Wohnumfeld und auf der Arbeit Umweltprojekte angestoßen, gar nicht aus Ehrgeiz, sondern weil ich es für richtig und geboten halte, und ich glaube, dass man sich im Leben reinhängen sollte, wenn man was zum Guten bewegen möchte. Mehr Energie geht auch die Arbeit, die Partnerschaft und Kinder. Zudem wird Sex bunter, ich war z.B. gerade bei einem kink workshop. Mit etwas mehr Erfahrung hat es mich auch mehr und mehr beruhigt, weil ich das loslassen konnte. Der Orgasmus ist nur eine Option. Das Leben ein Spiel. Vielen Dank nochmals dafür.